Michael Schmidt: Und die Tradition

Tagungsbericht

Unter diesem ganz offensichtlich der Goethe-Philologie geschuldeten Titel trafen sich vom 1.-3. Juni 2006 in der kleinen nordnorwegischen Universitätsstadt Tromsø etwa zwanzig jüngere, bislang zumeist noch wenig etablierte Forscherinnen und Forscher aus den USA, Belgien, Deutschland, Österreich, Ungarn, Polen, Litauen und Norwegen, um das Werk Elfriede Jelineks zu diskutieren. Arrangiert und durchgeführt wurde die Konferenz von der Tromsøer Literaturwissenschaftlerin Cathrine Theodorsen, deren Leopold von Andrian und dem Wiener Dilettantismus um 1900 gewidmete Dissertation soeben erscheint.
In ihrer gewollten Gegenläufigkeit erscheinen das eher konservative Thema und die eher unetablierte Gruppe, die es offen und lebhaft diskutierte, einigermaßen symptomatisch für den neuen Status der zur Olympierin avancierten Nobelpreisträgerin, die eben doch noch auch eine alternative und eben deshalb jüngere Forscher zur Identifikation anstiftende Autorin zu sein scheint. Den Wein (Grüner Veltliner) zum formal dinner der Konferenz um die frischgebackene Staatsschriftstellerin hatte die österreichische Botschaft gestiftet, die dazu getragenen Hosen – (vielleicht sollte man korrekter sagen: HosInnen-)Anzüge wirkten teils einigermaßen großordinarial, die Gespräche dagegen galten eher altbekannten akademischen Nachwuchssorgen.
Die nicht zuletzt Fragen der Intertextualität gewidmeten Vorträge waren oft erfrischend offen und ließen selbstbewusst Handschrift und intellektuelle Signatur der Vortragenden zu Worte kommen, indem sie etwa in das Eingeständnis mündeten, dass man den Schluss offen lassen müsse, weil man eben das Thema noch nicht zuende gedacht habe. In freilich etwas ungleicher Verteilung kam faktisch das gesamte Werk der Autorin ins Gespräch. Wenn einige der Beiträge zuweilen etwas positivistisch wirkten, so hat das seinen guten Grund. Frappierend genug für den älteren Beobachter stellen sich die früheren Texte Jelineks, die jüngere Leser schlechterdings nicht mehr als Zeitgenossen lesen können, als mittlerweile historisch geworden dar. Die Wenigsten der in Tromsø versammelten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler waren auch nur so alt wie das Werk Jelineks, sie bedürfen daher bereits eines untergegangene Realien erläuternden Kommentars, um kritisch verstehen zu können. Nicht wenige der Beiträge beruhten auf Archivforschungen. Man wird also tunlichst mit einer historisch-kritischen Ausgabe beginnen müssen, bevor das Werk überhaupt abgeschlossen ist.
Gerade weil das Establishment der Jelinek-Forschung hier in Tromsø gefehlt hat, zeichnete sich mit erschreckender Deutlichkeit ein Paradigmenwechsel ab, der nicht die Methoden betrifft, sondern den anderen, noch unscharfen Erwartungshorizont einer nachgeborenen Rezipientenschaft.

Tromsø, 19.6.2006

Michael Schmidt ist Professor am Institutt for kultur og litteratur der Humanistischen Fakultät der Universität Tromsø.